Mein erstes deutsches und bayrisches Grundgesetz erhielt ich als kostenloses Geschenk des Kultusministeriums im Sozialkundeunterricht der 8. oder 9. Klasse des Gymnasiums. Über die berühmten Grundrechte, angeführt von der Unanstastbarkeit der Menschenwürde, haben wir wahrscheinlich sogar eine Prüfung geschrieben. Als ich später an der Volkshochschule meine Mittlere Reife nachholte, bekam ich dort meine zweite Ausgabe dieser selben Verfassung. Beide sind aus meinem Besitz verschollen, und doch ist das deutsche Grundgesetz allgegenwärtig: Liberale halten es als Bollwerk des Antifaschismus und Lehre aus der Vergangenheit hoch, Schüler*innen müssen im Geschichtsabitur die Relevanz der Grundrechte erörtern, politische Parteien werden nach ihrer Verfassungstreue bewertet und ohne die Verfassung gäbe es keine Demokratie.
In der Fiktion des geläuterten Nazideutschlands auf dem Weg zum Bollwerk der Menschenrechte ist das Grundgesetz das zentrale Propagandadokument, auf das wir bereits als Schulkinder unter dem Deckmantel der Bildung eingeschworen werden. Wir alle können gebetsartig von der Unantastbarkeit der Menschenwürde und den Lehren aus dem Nationalsozialismus schwärmen, doch die wenigsten Verfassungsfans können auf spontane Nachfrage überhaupt Artikel 2 oder einen anderen der insgesamt 146 Stück zitieren.
Gerade die freiheitseinschränkenden Aspekte werden als antifaschistisch gesehen, da sie die Repression gegen Nazis ermöglichen sollen. Gerade diese Werkzeuge werden nicht genutzt, um offensichtlich faschistische Verfassungsfeinde zu bekämpfen, sondern führten lieber 1956 zum Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands. Liberale denken, dass das Grundgesetz sich gegen Nazis richtet, obwohl es Unterdrückung gegen jeglichen Widerspruch ermöglicht, beinahe das Gegenteil von Antifaschismus.
Der „Glaube“ ans Grundgesetz ist im Guten Willen gefußt, dass eine Regierung oder Staat unser Bestes im Sinn haben und deshalb auch in unserem Sinne Entscheidungen treffen würden. Tatsächlich lässt es aber viele Hintertüren und Unklarheiten als Plan B offen, die gegen uns genutzt werden könnten und auch regelmäßig werden. Die deutsche Verfassung ist und war auch schon immer ein Dokument zur Herrschaftssicherung deutscher Kapitalisten, die mit Krieg und Völkermord großen Zahltag abgerechnet hatten und jetzt mal eben als Demokraten umfirmieren mussten.
Im bürokratisch-juristischen Deckmantel handelt es sich bei den Grundrechten, dem ersten Kapitel der deutschen Verfassung, um reine Selbstdarstellung ohne Substanz, die bei der geringsten kritischen Betrachtung als das enttarnt wird, was sie ist: Mythische Selbstentlastung eines Bürgertums, das eben erst still einen industriellen Genozid mitgetragen hatte. Dass jede kritische Betrachtung dieses Textes bis heute ausbleibt, es im Gegenteil sogar die Basis des bürgerlichen Nationalstolzes bildet, spricht für die bedingungslose Indoktrinierung, die bis heute wirkt. Ich möchte also einmal detailliert eine Auswahl der insgesamt 20 Grundrechte auf ihren antifaschistischen Gehalt prüfen, um mich endlich öffentlich klar abseits des „Bodens des Grundgesetzes“ zu positionieren und klarzumachen, dass das Grundgesetz trotz aller heiligen Verehrung keine gottgegebene Weisheit, sondern ein löchriges Pamphlet ist.
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Artikel 1
Eine schöne Positionierung, die Tränen in die Augen treibt. Analysieren wir das Grundgesetz als reine Prosa, lassen sich Reue, Solidarität, Menschlichkeit, Liebe, Weitsicht, Güte und viele weitere Gefühle in diese Zeilen projizieren. Das Grundgesetz ist jedoch ein juristischer Gesetzestext und kann damit keinerlei Interpretationsspielraum offen lassen. Wollen wir ableiten, welche konkreten rechtlichen Konsequenzen aus diesem Artikel ergehen, werden wir schnell ernüchtert: Weder „Würde des Menschen“, „unantastbar“ noch „Verpflichtung“ sind definierbar und damit rechtsgültig. Obwohl die „staatliche Gewalt“ sich also hier zu ihrem „Schutz“ „verpflichtet“, kann daraus für Bürger*innen niemals rechtliche Handhabe ergehen. Es ist vor Gericht unmöglich, die „Antastung“ der eigenen „Menschenwürde“ zu beweisen, da diese schlicht nicht als Beweismittel existiert.
Ohne klare Definitionen werden verfassungsrechtliche Entscheidungen zur reinen Ermessensfrage. Wessen Ermessen? Dem Ermessen der Nazis, die Jahre zuvor noch gemordet hatten? Ihrer Enkel, die sich heute Bundeskanzler schimpfen? Der Jurist*innen, die nach 1945 unverändert in ihren Positionen verblieben? Wie wäre es zum Beispiel mit Hubert Schrübbers, dem Verfassungsschutzpräsidenten von 1955 bis 1972 und damit einem der führenden Experten für Auslegung des Grundgesetzes: Tastete er 1941 Anna Neubecks Menschenwürde an, als er in seiner Tätigkeit als Staatsanwalt für das NS-Regime ihre KZ-Haft für das illegale Sammeln von Spenden veranlasste?
Tasten Abschiebungen die Menschenwürde an? Gefängnisse? Gestrichene Sozialleistungen? Waffenlieferungen an genozidale Regime? Als aus dem Grundgesetz ergangene Institution demonstriert uns der deutsche Staat jeden Tag, wie er Menschenwürde auslegt, und wir sind seiner Definition ohne Handlungsspielraum ausgeliefert, egal wie sehr wir Blumenwiesen und Weltfrieden in den Artikel 1 hineinfantasieren wollen. Wir können nicht mehr tun als zu Vertrauen, dass der Staat das Recht hoffentlich in unserem Sinne auslegen wird.
Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
Artikel 2
Freie Persönlichkeitsentfaltung mag cool klingen und unserem Individualismus schmeicheln, doch die direkt folgende Relativierung ist einschränkender als das Zugeständnis: Als verfassungsmäßiger Text legitimiert sich das Grundgesetz mit dem Pochen auf „verfassungsmäßige Ordnung“ selbst. Alle Entfaltung, die unerwünscht ist, kann also nachträglich mit einem folgenden Eintrag doch noch eingeschränkt werden. Der Verweis auf „das Sittengesetz“ ist besonders besorgniserregend, denn es existiert nicht. Rechtswissenschaftler*innen wie beispielsweise Klaus Ewald schrieben lange Abhandlungen darüber, was dieses Sittengesetz sein solle oder könne, und kommen zu keinem abschließenden Ergebnis. Wie mit der „Menschenwürde“ ist auch hier die Abwesenheit einer Definition das Einfallstor für Interpretation und Ermessen, die in einem Klassenkampf unweigerlich gegen die Arbeiter*innenklasse genutzt werden würden.
Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
Artikel 5
Meinungs- und Pressefreiheit sind maßgeblich von ökonomischem Zugang bestimmt und damit auch ein Instrument des Klassenkampfes: Als Arbeiter*in kann ich keine Zeitung kaufen oder gründen, da mir die Ressourcen fehlen, zudem stellt das Presserecht durchaus Bedingungen für Veröffentlichungen. Die Zusicherung der Meinungsfreiheit ist nobel, jedoch offensichtlich auch nichts wert. Es freut mich, dass ich aktuell für die Äußerung meiner Positionen nicht unmittelbar ins Gefängnis komme, doch wann hat meine oder deine Meinung das letzte Mal etwas geändert? Meinungen sind komplett irrelevant, solange die gemeinschaftliche Organisierung um diese Meinungen eingeschränkt wird.
(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.
(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.
Artikel 8
Und wie Versammlungen unter freiem Himmel durch Gesetz beschränkt werden! Demonstrationen in Deutschland unterliegen klaren Auflagen und müssen angemeldet werden, sich also jemand juristisch verantwortlich machen. Staatliche Institutionen bestimmen also wann und wie gegen sie selbst demonstriert werden darf. Damit ist jeder legale Protest automatisch staatlich abgesegnet. Wie Protest ohne staatliche Absegnung aussieht, können wir regelmäßig auf deutschen Straßen beobachten, wenn hochgekokste Robocops die Quartzhandschuhe gegen Demonstrant*innen auspacken. Artikel 8 ist momentan das offensichtlichste Beispiel, wie das Grundgesetz zu unseren Ungunsten verdreht werden kann, wenn es die herrschende Klasse eben gerade benötigt.
(1) Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.
Artikel 12 & 12a
Als ich das Grundgesetz das erste Mal ernsthaft durch las, fielen mir hier die Schuppen von den Augen. Ich bin 100% überzeugt, dass kein liberaler Verfassungsfan jemals bis hier hin gelesen hat. Absatz 1 ist ein klarer Aussagesatz: Wir dürfen unsere Arbeit frei wählen. Die folgenden 8 Absätze beschäftigen sich allesamt mit Ausnahmen, unter denen man doch zur Arbeit gezwungen werden darf. Im „Verteidigungsfall“ ist die freie Berufswahl vollständig ausgeschaltet. Gerade bei diesem Artikel verbeißen sich Menschen, mit denen ich über das Grundgesetz diskutiert habe, vehement in der Annahme, der Staat würde Zwangsarbeit im Zweifelsfall schon fair auslegen. Die Verteidigung des Grundgesetzes fußt viel mehr in blindem Vertrauen in den deutschen Staat, als im tatsächlichen Text, den niemand überhaupt bis Artikel 12 von 146 gelesen hat.
(1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.
(2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.
Artikel 14
Ein weiterer Artikel, den Liberale gerne als Beispiel für unsere „soziale“ Marktwirtschaft heranziehen. Eigentum verpflichtet! Reiche Leute haben unser aller Wohl im Sinn! Während Absatz 1 ein klares Bekenntnis zu kapitalistischen Eigentumsverhältnissen ist, die auch durch staatliche Gewalt durchgesetzt werden, bleibt Absatz 2 mit der unklar definierten „Verpflichtung“ mal wieder eine leere Floskel, aus der keinerlei juristische Konsequenzen für die besitzende Klasse ergehen.
(4) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.
Artikel 20
In dieser letzten Erklärung begründet sich der Mythos des „Rechtsstaats“, dass deutsche Institutionen ihren eigenen Gesetzen unterworfen seien und das Volk so Kontrolle gegen Unterdrückung ausüben könnte. Wie ich jetzt hoffentlich ausreichend dargelegt habe, kann dieser Rechtsweg schön und gut offen stehen, ergehen aus den meisten Artikeln doch keinerlei juristischen Konsequenzen. Alle Zugeständnisse durch die deutsche Verfassung haben symbolischen Charakter, während alle Einschränkungen konkret die bürgerliche Herrschaft festigen sollen. Es ist ein irrelevantes, heuchlerisches Dokument, das durch allgegenwärtige Propaganda zum heiligen Symbol für alle Unterstützer*innen der aktuellen Gesellschaftsordnung geworden ist. Die Verfassung ist kaum ein Gesetzestext, stattdessen wird daran „geglaubt“ und darauf „geschworen“, ohne es jemals gelesen zu haben, fast wie eine BRD-Bibel. Das Grundgesetz lässt so viel Spielraum, dass wahrscheinlich jede denkbare Regierung ihre politischen Ziele ohne inhaltliche Änderungen innerhalb seines Rahmens umsetzen könnte, solange sie nur einige Schlüsselbegriffe im öffentlichen Diskurs umdefiniert. Als geouteter Verfassungsfeind braucht es nur eine kreative Auslegung des Artikel 18, um mich legal mit Genickschuss im Straßengraben zu beseitigen. Ist meine Menschenwürde dann angetastet?
„Wir unterschreiben nicht. Es wird jedoch der Tag kommen, da wir Kommunisten dieses Grundgesetz gegen die verteidigen werden, die es angenommen haben!“
– Max Reimann 1949 zur Ablehnung des Grundgesetzes durch die KPD