Mein erstes deutsches und bayrisches Grundgesetz erhielt ich als kostenloses Geschenk des Kultusministeriums im Sozialkundeunterricht der 8. oder 9. Klasse des Gymnasiums. Über die berühmten Grundrechte, angeführt von der Unanstastbarkeit der Menschenwürde, haben wir wahrscheinlich sogar eine Prüfung geschrieben. Als ich später an der Volkshochschule meine Mittlere Reife nachholte, bekam ich dort meine zweite Ausgabe dieser selben Verfassung. Beide sind aus meinem Besitz verschollen, und doch ist das deutsche Grundgesetz allgegenwärtig: Liberale halten es als Bollwerk des Antifaschismus und Lehre aus der Vergangenheit hoch, Schüler*innen müssen im Geschichtsabitur die Relevanz der Grundrechte erörtern, politische Parteien werden nach ihrer Verfassungstreue bewertet und ohne die Verfassung gäbe es keine Demokratie.
In der Fiktion des geläuterten Nazideutschlands auf dem Weg zum Bollwerk der Menschenrechte ist das Grundgesetz das zentrale Propagandadokument, auf das wir bereits als Schulkinder unter dem Deckmantel der Bildung eingeschworen werden. Wir alle können gebetsartig von der Unantastbarkeit der Menschenwürde und den Lehren aus dem Nationalsozialismus schwärmen, doch die wenigsten Verfassungsfans können auf spontane Nachfrage überhaupt Artikel 2 oder einen anderen der insgesamt 146 Stück zitieren.
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